Quartier Wagnerstraße: Alle inklusive
Im inklusiven Wohnquartier Wagnerstraße der Lebenshilfe im Kreis Kleve leben Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf unter einem Dach – nicht nur nebeneinander, sondern miteinander.
Die Wand in Annettes Appartement ist gelb. Knallgelb. Sonnenblumengelb. Weil es ihr gefällt. Der Maler musste zweimal kommen. Das erste Gelb war zu dezent. Jetzt passt es, jetzt knallt es. Das war Annette wichtig.
Annette Braun ist blind. Gemeinsam mit 38 anderen Menschen lebt sie seit einem Jahr im inklusiven Wohnquartier Wagnerstraße. Sie ist 67 Jahre alt, Rentnerin. Ihr Appartement ist in der Gruppe Blau, 1. Stock links. Außer ihr wohnen dort Tine, Dennis, Philipp, Linus und Christian. Eine Wohngemeinschaft, mit Raum für Gemeinschaft und Raum für jeden Einzelnen.
Annette ist mit 19 Jahren erblindet. „Meine Oma hatte grauen und grünen Star“, erzählt sie. Vermutlich sei das der Grund, dass ihre Sehkraft sehr plötzlich und schnell nachließ. Sie hadert nicht damit, strahlt eine heitere Gelassenheit aus. Unterstützung braucht sie, ein Stock begleitet sie im Alltag. Ihr Berufsleben hat sie in einer Werkstatt verbracht, abertausende Schnellhefter zusammengesteckt. Im Orientierungsbereich, wo Förderung und nicht Leistung im Vordergrund steht. Trotzdem: „Jetzt genieße ich mein Leben.“ Sie lächelt und streicht mit einer Hand über ihre Kette. Sie liebt Modeschmuck, die Sammlung riesig. Viele Erbstücke, viel dazu gekauft. Zuletzt in Wien, Ziel einer erlebnisreichen Flusskreuzfahrt im Sommer.
Annette BraunJetzt genieße ich mein Leben
Für Jenny Scholz ist es noch ein Stück bis zur Rente, sie ist 44 Jahre alt. Morgens um 5.30 Uhr klingelt in ihrem Appartement in Gruppe Grün der Wecker. Von 8 bis 16 Uhr arbeitet sie in einer Werkstatt, packt Nasenspülsalz in Kartons. Sie genießt vor allem das Miteinander. In der Werkstatt, in der Wagnerstraße. Sie kennt fast jeden, weiß zu vielen eine Geschichte. Wer mit wem und was. Ihr Herz schlägt für Kaffee, Kuchen und junge, attraktive Männer. Und Gesellschaftsspiele. Uno spielt sie am liebsten, vor allem gegen sich selbst. Wer gewinnt? „Keine Ahnung“! Allein spielt sie, weil der Eifer des Spiels sie manchmal überrollt. „Ich haue die anderen“, sagt sie. Eine einfache Erklärung, ein Schulterzucken, ein Lächeln.
Monika Niemann und Uwe Bartel sind von Düsseldorf-Holthausen in die Wagnerstraße gezogen. Aus einem alten in ein neues Leben, aus einem blutleeren Stadtteil in eine Zukunft mit Geschmack. Eine sehr bewusste Entscheidung: „Wir sind begeistert von dem Projekt“, unterstreicht das Ehepaar, 74 und 80 Jahre alt. Sie haben sich lange und gut überlegt, wie sie im Alter wohnen möchten. Und haben den Sprung gewagt, sind in Kleve angekommen. „Alle unter einem Dach, kurze Wege in die Stadt, zum Einkaufen. Hier ist Leben. Und hier sind wir auch in einigen Jahren noch gut aufgehoben“, sagen sie. „Wenn auch wir Hilfe brauchen.“ Kaufmännisch haben sie gearbeitet und in einem Steuerbüro. Heute spielt Uwe Bartel gerne Golf, Handicap 25. Seine Frau kümmert sich aufmerksam um das Drumherum. Und um die Nachbarn, eine echte Hausgemeinschaft entsteht.
Einmal in der Woche trifft sich die Hausgemeinschaft der Wagnerstraße zum Quartiersabend. Wer Lust hat, kommt zum Grillen, Erzählen oder Film schauen oder Film hören. Einer der Bewohner spielt Theater, er hat zuletzt das Video einer Aufführung mitgebracht. „So lernen wir uns kennen“, freut sich Jutta Dreher, Quartiersmanagerin der Wagnerstraße. Sie hält für den Träger – die Lebenshilfe im Kreis Kleve – die Fäden in der Hand. Und sie weiß: Die Gemeinschaft ist so stark, weil sie gut vorbereitet ist.
Bewerbungen für Wohnungen und Appartements gab es viele, zu viele. Auch heute ist die Warteliste lang. Die Wohngruppen wurden bewusst und mit Gespür besetzt. Vor dem Start des Projekts haben die Bewohner viel besprochen, unternommen, Ausflüge gemacht. So wurde klar, wer mit wem am besten kann. Wer zu wem passt. Wer sich mag. Denn: Menschen sind verschieden.
Ambulantisierung ist ein Stichwort des Projekts. Klingt theoretisch, funktioniert praktisch. Man wohnt nicht in einer Einrichtung. Man wohnt einfach. Und Hilfe kommt, wenn man sie braucht. „Unsere Hilfe kommt nicht von außen“, erklärt Sabrina Gürtler, die das multiprofessionelle Team des Quartiers leitet. „Wir gehören zum Quartier. Das schafft Vertrauen und Verlässlichkeit.“
Hintergrund
Lebenshilfe im Kreis Kleve: Mehr als 1.000 Mitarbeitende und Ehrenamtliche betreuen im niederrheinischen Kreis Kleve mehr als 2.500 Menschen in über 40 Einrichtungen.
Das Wohnquartier Wagnerstraße liegt mitten in der Klever Oberstadt. In gut drei Jahren Bauzeit sind 34 inklusive Wohneinheiten entstanden. Das Quartier bietet neue Formen des Zusammenlebens, soll ein Forum für bürgerschaftliches Engagement sein und als Quartierstreffpunkt offenstehen.
Im Quartier leben Mieter mit verschiedenen Teilhabe- und Pflegebedarfen und Lebensentwürfen zusammen mit Mietern ohne Unterstützungsbedarf. Es gibt Wohngemeinschaften, geförderte Appartements zwischen 45 bis 60 Quadratmeter Wohnfläche, sieben Wohnungen für den freien Wohnungsmarkt mit 65 bis 125 Quadratmetern und Funktionsräume.
Das Wohnprojekt ist auch baulich mehr als die Summe der einzelnen Wohnungen: Ein begrünter Innenhof lädt zum Austausch ein. Die Gemeinschaftsterrassen und Räume des Quartiersstützpunktes stehen allen offen. Eine Tiefgarage mit 18 Stellplätzen, E-Ladestationen, Fahrradstellplätze, Mieterkeller sowie Räume für Wäschepflege und Müllentsorgung gehören zum Quartier, alle barrierefrei erreichbar. Die inklusive Kindertageseinrichtung Lebensfluss der Lebenshilfe liegt nebenan, der Spielplatz grenzt direkt ans Quartier.